Dr. med. Karin Kelle-Herfurth

Dr. med. Karin Kelle-Herfurth

Beratende Ärztin und Partnerin für Neue Wege zum gesunden Erfolg - für Menschen und Unternehmen in Transformation.

Health & Business Counseling stärkt Sie, Ihre Gesundheit und Führung bei der Neuausrichtung im digitalen Wandel - in der Prävention, beim beruflichen Wiedereinstieg und Neustart in der Selbstständigkeit.

Anfragen

Gefangen oder frei? Über Double Binds und Traumata und den Umgang mit Komplexität

Im SystemTalk #23 (hier zum Video) sprachen wir am 16.12.2022 darüber, wie sich Double Binds in der Kommunikation und belastende (frühkindliche) Erfahrungen wie Traumata auf Fähigkeiten zur Bearbeitung von Komplexität auswirken. Wir haben und wurden in verschiedenen Kontexten unter anderem gefragt:

Wie kommt es, dass es einigen Menschen gelingt, Fähigkeiten für höheres Komplexitätsmanagement stabil ins Erwachsenenleben mitzunehmen und anderen nicht?

Wie entstehen und wirken sich Double Bind-Kommunikationsmuster (durch doppeldeutige Botschaften) im Zusammenhang mit der Verarbeitung von traumatisierenden Erfahrungen in früherer Kindheit aus?

Warum verzweifeln manche an paradoxen Phänomenen so, dass sie krank werden und andere nicht?

Welchen Situationen begegnen wir im Alltag, im Gesundheitswesen und in der Medizin, wo sich widersprechende Botschaften mehr Verwirrung hinterlassen als gute Entscheidungen zu ermöglichen?

Was können Menschen mit und was kann Gesellschaft von Menschen mit traumatisierenden Erfahrungen lernen, um dem Anpassungsdruck in Richtung niedrigeren Komplexitätsmanagements zu entkommen?

Wie wirken sich transgenerationale Traumata auf Bildungssysteme und darin wirkende Menschen aus?

Wie müssten Bildungssysteme beschaffen sein, um systemische Analysen und Reflexionen zu ermöglichen, damit wir besser Problemlöse- und Lernfähigkeiten entwickeln können und wollen?

In diesem Artikel gibt es neben dem Link zur Video-Aufzeichnung zusätzliches Material und Denkangebote zum Komplexitätsmanagement-Modell, den Auswirkungen von Double Binds und traumatisierenden Erfahrungen auf psychosoziale Fähigkeiten zur Komplexitätsbewältigung in medizinischen, beruflichen und organisationalen Kontexten.

Gefangen oder frei? Die Aufzeichnung unseres SystemTalks

Diesen und weiteren Fragen gehen wir im offenen Austausch, Dialog und Diskurs mit dem Publikum nach. “Wir”, das sind die Gastgeberin Gitta Peyn, Systemforscherin und Kybernetikerin, Elena-Maria Beenen, Soziologin und ich, Karin Kelle-Herfurth, aus der Sicht der Rehamedizin und Gesundheitsökonomie, als Forschungsteam vom FORMWELTen-Institut sowie Bardia Monshi, Psychologe vom Institut für Vitalpsychologie in Wien. Hier kommen Sie zur Aufzeichnung vom SystemTalk #23 am 16.12.2022:

Komplexitätsmanagement-Modell C2M

Im SystemTalk nimmt Gitta Bezug auf unterschiedlich entwickelte Komplexitätsmanagement-Fähigkeiten und damit verbundene Konflikte. Denn wie Menschen mit Komplexität umgehen können, wirkt sich direkt auf die Art und Weise aus, wie sie denken, fühlen und handeln, sich ihre Welt konstruieren und inwieweit sie klar sagen können, was sie meinen. In Interaktion macht es einen Unterschied, auf welcher Stufe sich zwei oder mehrere Personen bewegen und wie sie sich in Stresssituationen verhalten. Grundsätzlich kann jede und jeder auf Stufe 0 zurückfallen, wo komplexe Sachverhalte kaum bearbeitet werden können.

Ergänzend zum Video können Sie sich mit dem hier abgebildeten Modell beschäftigten. Gitta geht vor dem Einstieg in das Thema Double Binds, Traumata und Komplexität kurz auf das von ihr und ihrem Mann entwickelte Modell (C2M) für die Entwicklungsstufen und Formen von Komplexitätsmanagement-Fähigkeiten ein. Nehmen Sie sich am besten Zeit, weiteren Übungsbeispielen zum eigenen Verständnis und zur Perspektivbildung zu folgen. Wie man zu den Stufen/FORMen gelangt, erschließt sich besser in diesem Artikel, aus dem auch die Tabelle stammt: „Komplexitätsmanagement – Modell/Stufen/FORMen“.

Tabelle mit Komplexitätsmanagementstufen/-formen nach Peyn/Peyn 2019 zum Thema Double Binds und Komplexität, erklärt im Artikel
C2M – Entwicklungsstufen von Komplexitätsmanagement (Peyn/Peyn 2019)

Double Binds und Kommunikation

Double Bind ist ein Konzept der Psychologie, das eine Kommunikationssituation beschreibt, in der eine Person in eine Zwickmühle bzw. ein Dilemma gerät: Ein und dieselbe Person erhält eine doppeldeutige Botschaft. Das heißt, in den impliziten Annahmen der an der Interaktion Beteiligten stecken in sich konkurrierende/unvereinbare Erwartungen oder Anweisungen. Diese erlebt die Empfänger-Person als schwer lösbare oder unlösbare Situation.

Hinsichtlich der oft synonym verwendeten Begriffe Zwickmühle und Dilemma verweise ich gerne auf die differenzierte Betrachtung von Dr. Bernd Schmid. Denn – so viel vorweg – er zeigt damit zugleich einen möglichen Weg aus der Klemme auf. Indem die betroffene Person versucht, für sich zu reflektieren und der anderen Person zu beschreiben, worin aus ihrer Sicht die Unlösbarkeiten bestehen, wie das auf sie wirkt und dann um Klärung bittet. Etwa durch gemeinsames Entscheiden über Prioritäten und Timing.

„Von Zwick­mühle wird eher gesprochen, wenn inhaltlich beschrieben wird, worin Unlösbarkeiten bestehen. Wenn mehr Dynamiken von Erle­ben und Situationen beschrieben werden, wird eher der Begriff Di­lemma verwendet.“

Dr. Bernd Schmid in “Zwickmühlen und der Dilemma-Zirkel”, S. 11

Wie sich Double Binds auswirken

Der Double-Bind-Effekt (engl. “doppelte Bindung”) tritt meist aufgrund von Widersprüchen und Inkongruenzen zwischen Aussagen und Botschaften desselben Sprechers auf. Double Binds können sich negativ auf die Kommunikation zwischen zwei oder mehr Personen auswirken. Da es dem Empfänger nicht möglich ist, gleichzeitig beide Anweisungen bzw. Erwartungen erfüllen zu können, muss er oder sie mit der resultierenden Unklarheit, Unsicherheit und Verwirrung arbeiten. Das kann zu unangenehmen Gefühlen der Ambivalenz, Angst. Wut oder Enttäuschung bis hin zu Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung führen.

Dadurch entsteht oft eine gespaltene Position (“Zwiespalt”) innerhalb der betroffenen Person, die ein Spannungsfeld zwischen gegensätzlichen Polen erzeugt. Leidensdruck entsteht insbesondere dann, wenn sich wiederholt derartiges Verhalten zeigt und keine Reflexion der intrapsychischen Dynamiken und Interaktion auf anderen Ebenen stattfindet. Das kann z. B. über Meta-Reflexion und -Kommunikation, mitfühlende Gespräche durch ein wohlwollendes, nicht bewertendes Gegenüber und Interventionen in Coaching, Supervision und Mediation erfolgen.

Wird der Dialog versucht, weiterzuführen, setzt sich die Tragik fort. Ein Double Bind kann dazu führen, dass die Kommunikation abbricht und kein Fortschritt mehr erzielt wird. Lässt sich der Konflikt auflösen? In der verstrickten Situation nein bzw. nicht auf der gleichen Ebene. Es kann sich jedoch je nach Situation lohnen, das Thema in seiner Doppeldeutigkeit anzusprechen, indem – bei entsprechendem Bewusstsein dafür – Bezug zu verschiedenen Kontextebenen in Sach-, Beziehungs- und Sinndimensionen genommen wird. Werden Widersprüche offengelegt, wird klar, dass beide Erwartungen oder Aufträge nicht logisch gleichzeitig zu erfüllen sind.

Double Binds ziehen sich durch alle Bereiche des Lebens. Sei es in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz oder in anderen gesellschaftlichen Kontexten. Und niemand kann sich sicher davon freisprechen, sie nicht selbst zu erzeugen – aber sich entscheiden, achtsam zu sein und sich zu bemühen, Botschaften klar zu formulieren und offen für Klärung zu sein. Das schließt ein, auch auf nonverbaler Ebene in Gestik, Mimik und Tonfall etc. „stimmig“ zu kommunizieren.

Starre hierarchische Strukturen und beharrliche Konditionierungssysteme können es Menschen erschweren, ihre unbewussten Komplexitätsmanagementfähigkeiten klug zu nutzen. Es ist deutlich mehr Kraft aufzubringen und nicht ohne Ausschlussrisiko zu haben, sich Sozialsystemen und Gemeinschaften zu widersetzen, von denen hoher Anpassungsdruck ausgeht.

Double Binds im Gesundheitswesen

Double Binds kommen im Gesundheitswesen recht häufig vor, nicht nur isoliert, sondern auch kombiniert in sich überlagernden Dilemmata, wenn Ärzte und andere Fachpersonen zwischen mehreren unvereinbaren Optionen wählen müssen, die jeweils negative Konsequenzen haben. Ganz erheblich können die Auswirkungen in Kombination mit dem immer noch verkannten Phänomen der moralischen Verletzung sein. Mehr dazu im LinkedIn-Beitrag: Die Burnout-Rhetorik bei Gesundheitspersonal in Medizin und Pflege übersieht ein viel größeres Problem.

Im SystemTalk habe ich ein anderes, aktuelles und gravierendes Beispiel für Double Binds im Umgang mit Long COVID und ME/CFS genannt, was mir in Beratungen nicht selten begegnet. Es ist gleichermaßen für Betroffene und Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialwesen sehr relevant, da es Gesundheitsbeziehungen und Vertrauensverhältnisse nachhaltig beschädigt. Betroffene haben hier nicht nur mit komplexen und häufig schweren, unzureichend erforschten Krankheitssyndromen und einer Erkrankung zu tun, die mit einer Vielzahl an Symptomen und Vielfalt an Beeinträchtigungen einhergehen kann. Sie werden mangels krankheitsspezifischem Kenntnisstand in Einrichtungen und bei mangelndem Verständnis von Gesundheitsfachpersonal in ihrem Leid oft nicht ernst genommen.

Zur Charakteristik von Long COVID bzw. dem Post-COVID-Syndrom und einer guten Zusammenfassung darüber, was man von ME/CFS lernen kann (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische Fatigue-Syndrom, ICD-10-Code G93.3)

Relevant ist hier, dass von Long COVID und ME/CFS Betroffene krankheitsbedingt häufig unter einer Form der Belastungsintoleranz leiden, die durch eine verzögert einsetzende Zustandsverschlechterung nach bereits geringer Anstrengung gekennzeichnet ist. Die Fachbezeichnung ist Post-exertionale Malaise (PEM).

Das Problem in Kürze: Jede, auch sehr geringe körperliche und geistige Aktivität oberhalb der individuell unterschiedlichen Toleranzschwelle kann zu einer Überanstrengung mit nachhaltiger Zustandsverschlechterung führen. Dies hat grundlegenden Einfluss auf den Umgang mit den krankheitsbedingten Auswirkungen und die Auswahl symptomorientierter Therapien – und es beeinflusst die Prognose maßgeblich. Oberstes Ziel ist, zusätzlichen Schaden abzuwenden, der leicht provoziert wird, wenn man sich damit nicht auskennt und individuelle Grenzen nicht erkennt und respektiert. Wie in diesem im SystemTalk erwähnten Beispiel mit einer komplexeren Konstellation demonstriert wird (Definition mit drei Bestandteilen des Double Binds übernommen von Göldi 2020):

Double Bind-Muster in der Arzt-Patienten-Kommunikation:

1) Zwei einander widersprechende Handlungsaufforderungen von ärztlicher Seite zur Rehabilitation: “Achten Sie auf Ihre Wahrnehmung von Körpersignalen, machen Sie, soweit Sie können und überschreiten Sie Ihre Belastungsgrenzen nicht.” UND “Sie müssen aktiver werden und das Training langsam mal steigern, sonst bauen Sie Muskulatur ab und Sie werden gar nicht mehr belastbar.”

2) Keine Möglichkeit, zu kommunizieren, dass die Handlungsaufforderungen sich widersprechen. Betroffene sind in einer Zwickmühle, weil sie spüren, dass sich die Anweisungen ihrer Ärzte und Therapeuten widersprechen und vorgeschlagene Maßnahmen befolgen sollen, obwohl sie das Gefühl haben, dass sie ihnen nicht gut tun. In der Patientenrolle steht ihr subjektives Erleben der professionellen Meinung und Expertenwissen gegenüber. Viele wagen nicht, zu widersprechen. Das kann durch verschiedene Umstände bedingt sein.

Beispielsweise, weil sie das Vertrauensverhältnis zu Fachleuten nicht gefährden wollen, von denen sie sich Hilfe erhoffen. Oder durch verinnerlichte traditionell-hierarchische ärztliche Rollenbilder und sozial-gesellschaftliche geprägte „Normen“, dass es sich in bestimmten Beziehungskontexten nicht gehöre, zu hinterfragen. Oder weil sie sich ihr Problem nicht erklären und argumentativ diskutieren können, da ihnen tieferes Wissen über die Pathomechanismen hinter PEM und Erfahrungen fehlen, um die Paradoxie des Kommunikationsmusters durchschauen zu können.

Oder wenn sie es zwar sicher besser wissen, weil sie bereits tiefe Expertise in eigener Sache durch reflektierte Erfahrungswerte haben und ihnen die Unlösbarkeit des Konflikts bewusst ist. Sie aber spüren, dass sie als Betroffene mit ihren Bedenken und ihrem Wissen nicht ernst genommen werden und den ärztlichen oder therapeutischen Ansagen und deren zugeschriebenen Deutungshoheit qua Position unterlegen sind.

3) Keine Möglichkeit, die Situation aufzulösen und das Feld zu räumen. Die Zwickmühle (Double Bind-Situation) wird besiegelt, indem Abhängigkeiten und Machtgefälle wirksam werden. Sei es gegenüber Bezugspersonen, in der Arzt-Patienten-Beziehung oder formalen Vorgaben und Verweise auf Mitwirkungspflicht seitens der Sozialversicherungsträger.

Wehren sich Betroffene, an einer Therapie teilzunehmen, um sich zu schützen, wird ihnen möglicherweise Zugang zu anderer Hilfe verwehrt (z. B. Off-Label Use Medikamente). Brechen sie die Reha von sich aus ab, müssen sie damit rechnen, dass die Krankenkasse ihnen das Krankengeld streicht und die Rentenversicherung den Anspruch auf Erwerbsminderungsrente für ungültig erklärt, wenn der MDK die Reha für angemessen und notwendig hält. Dann bleibt die sozialrechtliche Auseinandersetzung.

Auf diese Art und Weise kann in Folge psychischer und physischer Stress zunehmen, unterhalten und verstärkt werden durch soziale sowie materielle existenzielle Nöte, was sich wiederum ungünstig auswirkt auf den Genesungsprozess und die berufliche Prognose. Zumal sich der Gesundheitszustand durch ausgelöste Crashs dauerhaft verschlechtern kann.

Diese beispielhaften Umstände möglicher Double-Bind-Konstellationen sollen verdeutlichen, dass psychische Belastungen nicht nur krankheitsbedingt sind und nicht nur TROTZ gut gemeinter Behandlungen auftreten. Sondern dass sich psychische Probleme auch WEGEN mancher Interventionen und durchaus traumatisierender Beziehungserfahrungen im Gesundheitswesen erst manifestieren können. Das Verständnis und der Umgang des professionellen Umfeldes mit den Folgen der Erkrankung und den Betroffenen ist von entscheidender Bedeutung, ob Erkrankte Zuwendung und Unterstützung wahrnehmen.

Umweltbezogene Kontextfaktoren wie z. B. die Einstellung von Gesundheitsberufen und soziale Dienste können als förderliche und hemmende äußere Einflüsse auf ihre Funktionsfähigkeit und Behinderung im Alltag einwirken und die eigenen Möglichkeiten entsprechend erweitern oder begrenzen. Daher bedarf es dringend mehr Aufklärung und Sensibilisierung dafür und Unterstützung von Gesundheitsprofessionen in der Bewusstseins- und Erkenntnisbildung, dass ein rein auf biologische und individuelle biografische Bezüge fokussiertes medizinisches Erklärmodell für die Entstehung von Gesundheit und Krankheit nicht haltbar ist. Und dass für die Aufrechterhaltung und Chronifizierung nicht allein personbezogene psychosoziale Faktoren zu betrachten und zu behandeln sind, sondern der Anteil salutogener versus pathologisierender Rahmenbedingungen im konkreten Einzelfall und systemisch ebenso kritisch zu hinterfragen ist.

Selbst-bewusstes Management komplexer Krankheitsfolgen

In solchen Dilemma-Situationen haben Betroffene immer das Nachsehen, wenn sie anstelle von Fürsorge und empathischer Resonanzerfahrung Schuldzuschreibungen und Rückmeldungen erleben, die ihnen vermitteln: “Was immer ich sage und tue, es ist falsch und ich werde bestraft.” Viele chronisch Erkrankte mit unsichtbaren Beeinträchtigungen machen wiederholt die Erfahrung, dass ihnen nicht geglaubt wird, wie erheblich eingeschränkt sie sind. Dass sie psychologisierend stigmatisiert werden, weil ihre Symptome nicht als körperlich bedingt gedeutet und anerkannt werden. Und dass ihnen neu und mühsam erlernte, gesunde Verhaltensweisen negativ ausgelegt werden, z. B. dass sie sich ängstlich-vermeidend verhalten und zu viel schonen würden.

Ergänzend dazu: Lesetipp: Long COVID lässt neu behinderte Menschen vor alten Barrieren stehen

Psychologisieren, Umdeuten und Absprechen der „Richtigkeit“ von eigenen Wahrnehmungs- und Erlebensmusten sind Formen von medizinischem Gaslighting. Das kann auch unbewusst und unbeabsichtigt geschehen und das Phänomen ist nicht auf Einzelpersonen begrenzt. Wird es auf Professions- und Systemebenen und disziplinübergreifend unreflektiert in Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen übernommen, kann es sich zu institutionalisierter Diskriminierung und iatrogener (Re-)Traumatisierung auswachsen.

„Gaslighting bezieht sich auf eine Form der psychologischen Manipulation, die die Opfer dazu bringt, an der Wahrnehmung ihrer eigenen Realität zu zweifeln. Medical Gaslighting beschreibt die Erfahrung eines Patienten, dass sein medizinisches Problem von einer medizinischen Fachkraft heruntergespielt, abgetan oder willkürlich einer psychologischen oder natürlichen Ursache zugeschrieben wird.“ (Dawn O’Shea auf univadis, 22.02.2023)

Hier bedarf es systemischer Konfliktanalysen und Bewusstseinsbildung für die Konfliktform und deren Entstehung zur mehrdimensionalen Komplexitätsbewältigung. Angemerkt sei, dass auch verständnisvolle Ärzte in der Situation in systemimmanenten Zwängen stecken können. Zudem sind inhaltliche Konzepte wichtig, um die Pathophysiologie von PEM und die paradoxen körperlichen Reaktionen zu verstehen. Denn es ist eine völlig andere Form von Belastungsintoleranz durch substanzielle Entkräftung als bei anderen Erkrankungen und es hat auch mit Erschöpfung durch Arbeitsstress, Burnout oder Depression nichts zu tun. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die unspezifische Symptomatik durch moderat gesteigerte Aktivität dort in der Regel besser wird und sich auch Erholungseffekte durch Training steigern lassen. Bei PEM ist das nicht der Fall. Dem Körper wird sozusagen der Stecker gezogen, der Akku lädt nie voll Energie auf und es treten atypische Effekte wie Gefäßengstellung und Minderversorgung der Muskulatur unter Belastung auf. Das erfordert ein grundlegend anderes Herangehen, individuell und flexibel, das gemeinsam mit den Betroffenen auszuhandeln und anzupassen ist. Unabdingbar ist auch die gestaltende Einflussnahme auf das Umfeld zur Entlastung, Unterstützung und Kompensation, z. B. mit Hilfsmitteln.

Damit Erkrankte mit PEM eine Chance auf Besserung und vielleicht sogar Genesung haben, ist es hilfreich, zu verstehen, dass und wie Double Binds zustande kommen und was sie stresst – und wie sie dem begegnen können. Das bedingt eine Reihe von Notwendigkeiten und Entbehrungen im Aktivitätsmanagement: Sie müssen über „Pacing“ aufgeklärt, angeleitet und begleitet werden, denn die Umsetzung ist schwer. Es funktioniert nur, wenn sie sich kontraintuitive Strategien zur Selbsthilfe aneignen, um innerhalb ihres Toleranzbereiches aktiv zu bleiben und Pausen machen, bevor sie erschöpfen. Sie müssen rechtzeitig Hinweise auf eigene Grenzen und PEM erkennen können (was aufgrund der Verzögerung schwierig ist) und sie akzeptieren, um andere Wege zu finden, ohne sich zu überfordern (was sich nicht gänzlich vermeiden lässt) und nicht durch Erwartungs-Erfüllung des Umfeldes überlastet zu werden (was auch vom Verstehen und Verständnis anderer abhängt). Vor allem müssen sie sich mit der Diskrepanz ihres Selbstbildes gegenüber der harten Realität, zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, ihrer Verletzlichkeit in der Unvorhersehbarkeit und Abhängigkeit im schlimmsten Zustand des Kontrollverlustes durch einen Crash arrangieren. Das alles erfordert auch guten (Selbst-)Kontakt, (Selbst-)Mitgefühl, Verbundenheit und viel Geduld.

Ergänzend dazu - Belastungsintoleranz als Leitsymptom von ME/CFS: Was ist Post-Exertional Malaise (PEM)? Strategie zum Krankheitsmanagement: Pacing

Komplexitätsmanagementfähigkeiten als Gesundheitsressource

Trotz der Erschwernisse verfügen manche Menschen, die solchen und anderen heftigen Stressoren durch Gaslighting und Mobbing ausgesetzt waren, über eine hohe Widerstandskraft (Resilienz). Vermutlich auch deswegen, weil sie auf sich gestellt fürs (Über-)Leben früh lernen mussten, sich differenzierende Strategien anzueignen zum bewussten und selektiven Wahrnehmen, Bewältigen und Integrieren. Wonach sie abwägen und welche Unterscheidungs- und Entscheidungskriterien sie bei existenziellen Fragen anlegen.

Die Fähigkeiten können ihnen helfen, sich selbst psychisch zu stabilisieren, angemessen auf unterdrückende Versuche zu reagieren, die auch subtil und unbewusst an sie herangetragen werden können. In ausweglosen Situationen kann es ihnen mit entsprechender „Übung“ eher gelingen, sich physisch und kognitiv andere Freiräume zu suchen und zu erschaffen, um Abstand zu finden, Gefühle körperlich be-greifbar zu machen und auszudrücken, bevor sie emotional überwältigt werden. Sie können in Krisen auf tiefere Ressourcen zählen. Traumata verändern Gehirnstrukturen und die Art und Weise, wie Menschen denken und erleben. Aus dem Anerkennen und Bearbeiten-können kann mit der Zeit durchaus Kraft geschöpft werden.

Die Fähigkeit, Komplexität auf höheren Stufen zu managen, ist als persönliche und gesellschaftliche gesundheitliche Ressource zu sehen. Das heißt, Komplexität erkennen, handhaben und organisieren zu können und zu wollen (!), lässt sich auf allen Ebenen der Verhältnis- und Verhaltensprävention nutzen. Ein gezieltes individuelles und kollektives Training von Komplexitätsmanagementfähigkeiten hilft umgekehrt auch, emotionale Flexibilität und kognitve Beweglichkeit zu fördern – was essenziell ist für soziale Kompetenzen.

Um Komplexitätsmanagementfähigkeiten auch in Stress- und Krisensituationen auf hohem Niveau zu halten, ist eine gewisse Ambiguitätstoleranz notwendig, also die Fähigkeit mit unklaren und widersprüchlichen Situationen umzugehen. Das ist, wie Sie wissen, auch im organisationalen und geschäftlichen Sinne relevant und sozial als auch ökologisch wirksam. Alles hängt also miteinander zusammen und wir können uns keine Abkürzung mehr leisten. Wir tun daher gut daran, die Professionalisierung von Gesundheits- und Komplexitätsmanagementkompetenzen zu fördern und Selbstbefähigung zu unterstützen.

Deswegen liegen meine Schwerpunkte auch auf Forschung, Beratung und Konzeption von kompetenzbasierten entwicklungsorientierten Bildungsangeboten zum Ausbau von Komplexitätsmanagementfähigkeiten im Kontext systemischer Gesundheitsförderung, Prävention und Krankheitsbewältigung. Schauen Sie sich mein kurzes Video an, was das mit #FORMWELTHealth zu tun hat.

Auf LinkedIn habe ich gefragt: „Was meinen Sie, warum sind Fähigkeiten für Komplexitätsmanagement als gesundheitliche Ressource zu sehen?“

Den bemerkenswerten Kommentar von Susanne Reuter möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: „Weil sie Freiheitsgrade schaffen und damit Raum für Variationen von erlernten/konditionierten Reflektions-, Reaktions- und Verhaltens-/Kommunikationsmöglichkeiten, die zu selbstbewussterer Abgrenzung und Selbstfürsorge führen im Sinne von Ablehnen, was krank oder kränker macht, einfordern, was unterstützt.“

Wie sehen Sie das? Schreiben Sie mir gerne!

Weiterführende Ressourcen und Artikel

Empfehlenswerte externe Links zu den Themen im SystemTalk

Zu psychischen und sozialen Auswirkungen von Double Binds in der Arbeitswelt: Ausarbeitung von Claudia Göldi, 2020, als PDF-Datei: “Die Vulnerabilitäten von Double Bind-belasteten Menschen, ihre Reaktionsmuster und deren Beurteilung im Organisationskontext

Zum Umgang mit Dilemmata in Beratung, Coaching und Bildung: Ein Buch von Dr. Bernd Schmid, 2022, als PDF-Datei: “Zwickmühlen und der Dilemma-Zirkel”. Er beschreibt oben erwähnte Differenzierung zwischen Zwickmühle und Dilemma und das Modell des “Dilemma-Zirkels” mit seinen vier verschiedenen Stadien in solchen Situationen. Im Buch werden gute Anregungen gegeben, um Dilemma-Situationen zu erkennen, zu verstehen und effektiv damit umzugehen. Das bezieht sich insbesondere auf professionelle Vorgehensweisen und Auswirkungen in Berufssituationen und Organisationen im persönlichen Coaching, in Reflexionen und Diskussionen.

Zur Darstellung traumatheoretischer Konzepte. Review von Prof. Angela Moré, Leibniz Institut für Soziologie, Hannover. Zum psychoanalytischen Verständnis transgenerationaler Übertragungen. Abstract: In diesem Artikel wird zunächst der Hintergrund beschrieben, der zu einem umfassenden Wissen und einer systematischen Erforschung der transgenerationalen Übertragung geführt hat, insbesondere in den Bereichen der psychoanalytischen Praxis und Theoriebildung. Gleichzeitig mit den Erkenntnissen aus der therapeutischen Arbeit mit Nachkommen von Shoah-Überlebenden verbesserte sich unser Verständnis der transgenerationalen Übertragung von Bindungsmustern innerhalb der Bindungstheorie. In diesem Artikel werden verschiedene theoretische Konzepte von Traumata erörtert, die zum Teil aus der psychoanalytischen Arbeit mit Nachkommen von Shoah-Überlebenden hervorgegangen sind, um dann auf die spezifischen Mechanismen und Inhalte der Traumaübertragung und ihre Folgen einzugehen. Psychische Prozesse wie die szenische Übertragung, die reaktive Übertragung und die projektive Identifikation werden erörtert, und dann werden spezifische Aspekte der Beziehungen in den Familien der Täter und ihre transgenerationalen Verstrickungen betrachtet. Abschließend wird die Verallgemeinerbarkeit dieser Befunde diskutiert.

TRAUMATISIERUNG: Schwere Kindheit, höhere Achtsamkeit: Artikel im SPEKTRUM Magazin. „Wer als Kind Vernachlässigung oder Missbrauch erleben muss, ist als Erwachsener oft achtsamer. Dabei könnte es sich um einen Coping-Mechanismus handeln, der die seelische Widerstandskraft erhöht.“

Blog-Artikel zu ähnlichen Themen

REFLEXIONSÜBUNG: So kommen Sie raus aus dem Stress und finden Ihre Balance zurück

Führung und Gesundheit im Wandel: Selbstfürsorge und Stressbewältigung

Das agile Mindset – Gibt es das überhaupt?

Braucht Selbstorganisation persönliche Reife?

Lernen – Arbeiten – Leben: Zukunft weiterdenken mit #NewHealth

Über das FORMWELT-en Institut und Forschung

Mit dem FORMWELTen-Institut für erneuernde systemische Forschung, ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Bildungsangeboten forscht und fördert das Gründer-Ehepaar und internationale Team um Gitta und Ralf Peyn weltweit systemische Bildung und verständigungsorientierte Kommunikation.

Das FORMWELT Universum bietet Modelle, Konzepte, Plattformen, Seminare und technologiegestützte Tools aus Next-Generation-Systemtheorie und Kybernetik für alle, die einen systemischen, fairen und nachhaltigen Beitrag für eine bessere Welt durch ein besseres Miteinander leisten wollen.

Mit dem FORMWELT Systemic Health Research Lab engagieren wir uns gemeinsam für systemische Gesundheitsforschung und Langlebigkeit – mit Fokus auf Komplexitätsmanagementfähigkeiten. Über die Links erfahren Sie mehr zum Hintergrund und unser aktuelles Projekt mit #FORMWELTHealth.

Unterstützen Sie den Bau der gemeinnützigen Online-Plattform: C2M Test- und Erfahrungsuniversum.

Beitragsbild: Anemone123 von Pixabay für Canva

Diesen Beitrag teilen ... 1000 Dank!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert