Neu in der Blog-Reihe „Für Sie gelesen“: Ein Lesetipp mit kritischem Diskurs und meiner Einladung zum Dialog an Sie, wenn Sie sich auch ein wenig mit Veränderungsprozessen und Psychologie beschäftigen oder sich zumindest dafür interessieren.
Dann werden Sie sicher auch schon über Theorien und Modelle gestolpert sein, die uns Denk- und Verhaltensmuster erklärbar machen.
Den Anfang mache ich in dieser neuen Kategorie auf meinem Blog mit dem LinkedIn-Beitrag von Holger Gelhausen vom 22.06.2019:
Ich schnappe das hier auf, weil ich Impulse anderer weitertragen, mit meiner Sicht wiederum zum Perspektivwechsel anregen und Anstöße zum Weiterdenken geben möchte.
Agil, Growth, Fixed oder Mixed Mindset - Was denn nun?
Den Artikel von Holger finde ich lesenswert, auch weil er kritisch ist und polarisiert, wenngleich ich befürchte, dass er genau deswegen vor allem von denen gelesen, geliked und geteilt wird, die ohnehin auf seiner Welle sind.
Wir hatten uns bereits auf Twitter kurz zum Thema „Fixed Mindset“ vs. „Growth Mindset“ ausgetauscht.
Ich bin es ehrlich gesagt ebenso leid wie Holger, immer öfters zu lesen und zu hören, wie Menschen dysfunktionales Verhalten, mangelnde Kompetenz zum Weiterdenken, fehlender Veränderungswille oder rückständige Persönlichkeitsreife unterstellt wird, indem undifferenziert und pauschalisierend von einem „agilen Mindset“ gesprochen wird, was sie haben müssten, aber nicht hätten.
Dabei bedienen sich jene „Experten“, vorzugsweise gerade für Agilität, New Work & Co. gerne dem Mindset-Modell von Carol Dweck – übersehen dabei allerdings, dass es eben auch nur ein vereinfachendes Modell ist.
Die Unterscheidung zwischen einer, vereinfacht gesagt fixierten versus offenen Haltung und Denkweise, basiert leider allzu leichtfertig auf einer Zuschreibung, indem anhand individuell wahrgenommener und individuell bewerteter Verhaltensweisen anderer (quasi durch die Zuordnung in „Richtig“ oder „Falsch“) bestimmte Persönlichkeitsmerkmale unterstellt werden, jedoch ohne den Kontext zu berücksichtigen.
Das ist fatal. Denn das, was wir sehen, ist lediglich unsere beschränkte Sicht auf das, was ist und was sein könnte. Wir können immer nur Ausschnitte wahrnehmen.
Wie Menschen sich im beruflichen Umfeld verhalten, kann erheblich von ihrem Denken, Fühlen und Verhalten im privaten Umfeld abweichen.
Riskikoavers? Sicherheitsliebend? Veränderungsresistent?
Ich kenne etliche Menschen, die ihr Leben mehr oder weniger von heute auf morgen auf den Kopf gestellt haben, oft auch mussten. Weil sie durch gesundheitliche, private oder existenzielle Krisen plötzlich vor die Wahl gestellt wurden, entweder damit unterzugehen oder das Steuerrad ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen und neu anzufangen.
Ich kenne ebenso viele Menschen, die sich nebenberuflich für einen höheren Zweck ehrenamtlich engagieren, Menschen zusammenbringen, Vereine gründen, sinnvolle Initiativen vorantreiben, sich selbstlos für andere einsetzen und sogar ihre eigene Gesundheit und ihr Leben für andere riskieren.
Und ich kenne genauso viele Menschen, die äußerst kreative Fähigkeiten haben und in ihren Hobbys das Potenzial ausleben, ein breites Allgemeinwissen, offenes Denken und Weisheit an den Tag legen, was sie nicht mal annähernd in ihrem Arbeitsumfeld ausleben können. Zumindest nicht nach ihrer Wahrnehmung. Wie schade.
Das zeigt einfach, wie voreilig und ungerechtfertigt so manche Annahmen getroffen werden.
Haltung ist eine Frage der Perspektiven und des Kontextes
Es wird viel menschliches und unternehmerisches Potenzial verschenkt, was sich mobilisieren ließe, wenn man Menschen nur ein bisschen mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringen und ihre Arbeit und Leistung anerkennen würde.
Ich meine ehrlich gemeinte Zuwendung und echtes Interesse am Menschen, das nicht nur auf ihre Erwerbsarbeit und Produktivitätsfaktoren begrenzt ist. Und indem Verantwortung übernommen und ermöglicht wird, sie teilhaben und Veränderungen mitgestalten zu lassen, weil sie dann nicht nur in ihrem, sondern auch im unternehmensstrategischen Sinne agieren.
Menschen wollen leisten. Sie wollen etwas für andere und mit anderen leisten. Und sie tun es einfach, ohne dass sie es müssten und auf agile Weise, ohne es zu wissen. Wenn das Umfeld für sie stimmt, sie Selbstwirksamkeit und Wertschätzung erfahren und sie sich zugehörig und sicher fühlen, ohne gemaßregelt zu werden.
Es ist erforderlich, den Rahmen dafür durch strukturell-kulturelle Veränderungen der Arbeits- und Wissensorganisation zu gestalten und die Bedingungen mit kommunikativen und technologischen Mitteln zu schaffen, in denen sie sich verändern und entwickeln können.
Wer Menschen um sich haben möchte, die Veränderungen mit tragen, sich zu eigen machen und sich selbst verändern, um mehr Wertschöpfung und Innovationen zu generieren, muss ihnen das Umfeld bieten, in dem es sich „lohnt“ und dafür sorgen, dass das Wofür, der unternehmerische Zweck und die Leistung für den Kunden erklärbar und erlebbar wird.
Das würde weit mehr Wirkung erzielen als ihr Mindset in Richtung „agil“ verändern zu wollen. Kein Mensch ändert sein Verhalten in die Richtung, wo er hin soll, nur weil andere das so wollen.
Keine Gruppe von Menschen schaltet auf ein anderes Miteinander um und schafft Agilität in der Zusammenarbeit im Team, in Projekten und in der Organisation, wenn entscheidende Rahmenbedingungen immer noch auf Statik und Statuserhalt gepolt sind und entsprechendes Verhalten gestützt, belohnt und vorgelebt wird. Das eine bedingt das andere.
Die agile Transformation von sozio-ökonomischen Systemen ist keine gemeinschaftliche Verhaltensänderung, sondern in erster Linie eine Veränderung der Verhältnisse. Menschen verändern und entfalten sich darin in dem Ausmaß, wie es der durch Strukturen, Prozesse und die Kultur geprägte Rahmen aus ihrer Sicht zulässt, fördert und fordert.
Man kann von dem Verhalten anderer Menschen weder auf ihre Haltung und Handlungsmotivation, noch auf ihre Intelligenz, Kompetenz und Persönlichkeitsreife oder ihre Resistenz gegenüber Veränderungen schließen. Nicht, ohne ihren Lebenshintergrund, den Kontext und die jeweilige Situation und ihre Interaktion in Systemen durch einwirkende innere und äußere Faktoren zu berücksichtigen.
Und selbst dann können wir nicht alles überblicken, nur annehmen und Zusammenhänge herstellen, soweit sie sich für uns in Mustern erschließen lassen.
Die Emotionalität der Beziehungen, die psycho-sozialen und gruppendynamischen Effekte und Konflikte auf der Team- und Organisationsebene entziehen sich dem, was wir eindeutig analysieren und durch Mindset-Training gezielt steuern könnten.
Wer das Verhalten anderer beurteilt, sollte daher auch in der Lage und willens sein, seine Hypothesen gleichermaßen zu prüfen und die eigenen Annahmen immer wieder in Frage stellen.
Dazu sind wir alle angehalten, wenn wir gut miteinander auskommen und zusammen Zukunft gestalten wollen.
Wer das Verhalten anderer beurteilt, sollte auch in der Lage und willens sein, seine Hypothesen gleichermaßen zu prüfen und die eigenen Annahmen immer wieder in Frage stellen.
Dr. Karin Kelle-Herfurth Tweet
Svenja Hofert, selbst Expertin und Autorin zu Themen rund um das sogenannte agile Mindset, schrieb übrigens zu diesem aktuellen Trend in ihrem Beitrag vom 16.06.2019:
„Fixed, Growth und False Growth Mindset – Sind wir nicht alle ein wenig mixed?
„Das Modell des Fixed und Growth Mindset nach Carol Dweck ist bestechend einfach – aber wie alles Vereinfachende auch irreführend, wenn es nur an der Oberfläche verstanden wird. So gibt es nicht wenige Personen, die für sich ein Growth Mindset deklarierten und anderen eine Fixierung unterstellten. Carol Dweck spricht hier inzwischen von einem false growth mindset. Das kennzeichnet Personen, die sich für offen halten, in ihrem Verhalten aber eine andere Sprache sprechen.“
Hören wir also auf damit, in dieser schönen neuen Arbeitswelt, die doch für ein offenes Mindset spricht, uns mit der eigenen (vermeintlichen) Weitsicht erhaben zu fühlen und uns damit über andere zu stellen.
Wenn wir alle mit ein wenig mehr kritischem Denken, Selbstreflexion, Respekt und wohl überlegten Äußerungen vorangehen, klappt das mit der Transformation auch leichter.
Die beginnt schon beim Menschenbild und der inneren Grundhaltung von jedem selbst. Mit Schieben, Drücken und Ziehen an anderen geht es jedenfalls nicht schneller.
In diesem Sinne: Ob die Denkweise richtig oder falsch ist, ist nicht die Frage. Oder?
Wie denken Sie darüber? Was macht ein agiles Mindset für Sie aus? Ist das für Sie relevant?
Lassen Sie es mich gerne wissen.
Ich freue mich auf den Dialog mit Ihnen.
Beitrags-Foto: © chrupka / Getty Images Pro
11 Gedanken zu „Das agile Mindset – Gibt es das überhaupt?“
Vielen Dank für den Beitrag. Ergänzend vielleicht noch der Hinweis auf den Denkfehler, man brauche überhaupt ein agiles Mindset, um darauf aufbauend agil arbeiten zu können. Agiles Mindset entsteht durch Verhalten und Handlungen in einem System, das agiles Arbeiten zulässt, fördert und fordert. Menschen verhalten sich so sehr agilen Werten entsprechend, wie es das System für sie individuell zulässt. Agiles Mindset ist also das Ergebnis und der Verstärker und nicht die Voraussetzung.
https://www.inspectandadapt.de/agiles-mindset-ist-nicht-das-ziel/
Hallo Daniel,
vielen Dank für den Kommentar und die wichtige Ergänzung. Es ist ein wenig so wie mit dem Henne-Ei-Prinzip. Ob es tatsächlich ein agiles Mindset gibt bzw. was genau darunter zu verstehen ist und woran man es erkennt, darüber gibt es ja die viele Ansichten und Theorien. Spannend ist es auf jeden Fall, die teils konträren Sichtweisen aus psychologischer, soziologischer und ökonomischer Sicht gegenüberzustellen.
Ich persönlich bin jedenfalls auch der Auffassung, dass die Haltung, die Denk- und Handlungsweisen von Menschen sich so entwickeln, wie sie in Systemen zugelassen, gefördert und gefordert werden. Ohne relevante Anforderung keine Entwicklung. Nur ist das eben ein individueller und kontinuierlicher Erfahrungs-, Reflexions- und Lernprozess. So entwickelt sich auch persönliche Reife. Das muss man sich zunutze machen und Systeme dem Menschen anpassen, nicht andersrum. Wer anderen hingegen ein agiles Mindset „aufstülpen“ will, um das System agil zu machen, macht die Sache nicht wirklich besser als den kritisierten Taylor nachzuahmen.
Danke für den Impuls zum Weiterdenken und viele Grüße
Karin
Danke für Ihren Beitrag, Frau Dr. Kelle-Herfurth. In einem Seminar zum Thema Leadership im operativen Bereich, habe ich meine Ansicht vertreten, dass Führen vor allem Ermöglichen sein soll. Meine Ansicht finde ich in Ihrer Auslegung, insbesondere in den Bezügen zu den Rahmenbedingungen, wieder. Die Folge: als Philosoph wurde ich geadelt. Sehr nett. Solange sich das Bewusstsein nicht verändert wird der Mensch auch sein Verhalten nicht ändern. Abschließend: gerade bei FK sehe ich teils gravierende Abweichungen in der Aussenwirkung zum Selbstbild. Dramatisch zeigt es sich mit zunehmender Unfähigkeit zur Reflexion des eigenenHandelns. Und, gerade FK sind in Ihren Veränderungskompetenzen stark gefordert.
Hallo Herr Christ,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich sehe Führung im operativen Bereich auch vorwiegend im Ermöglichen, indem Mitarbeiter in Veränderungen einbezogen werden, mitentscheiden und mitgestalten dürfen, können und wollen. Das ist äußerst wirkungsvoll, verbessert die Leistung, Ergebnisse und Fähigkeiten, motiviert und macht zufrieden.
Ja, Veränderungen setzen ein Bewusstsein und Bereitschaft dafür voraus, unter anderem auch (Selbst-)Reflexion und die Neuverortung der Identität und Zugehörigkeit im sozialen Kontext. Da stehen Menschen auf unterschiedlichen Stufen, Führungskräfte wie Mitarbeiter. Beide sollten darin je nach Bedarf und individuellen Bedürfnissen unterstützt werden werden.
Viele Grüße, Karin Kelle-Herfurth
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