Der aktuelle Gesetzesentwurf zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes wirft derzeit viele Fragen auf: Ausgerechnet in der Praxis bewährte Instrumente wie das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) und die Stufenweise Wiedereingliederung (StW) werden hier nicht berücksichtigt. Was bedeutet das aus Sicht des Reha- und Sozialrechts? Eine Stärkung dieser Instrumente ist schon deswegen unerlässlich, um Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zu entsprechen und Exklusionsrisiken zu minimieren.
Der Lese-Tipp in diesem Artikel bezieht sich auf einen Fachbeitrag von Frau Prof. Dr. Katja Nebe, in dem sie für eine bessere Rechtsdurchsetzung und Stärkung des BEM und der StW plädiert. Ihre Meinung und Forderung ist die logische Schlussfolgerung einer konsequenten Umsetzung von Art. 27 UN-BRK und der Europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie. Zudem sind diese Verfahren für einen inklusiven Arbeitsmarkt im Setting der betrieblichen Prävention als angemessene Vorkehrungen für alle Beschäftigten zu sehen.
Einleitung: Der aktuelle Gesetzentwurf zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes
Der aktuelle Regierungsentwurf des “Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes” soll dazu beitragen, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit zu halten. Auf der Seite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ist im Wortlaut zu lesen (hier zum Referentenentwurf und Status):
“Für eine inklusive Gesellschaft ist es entscheidend, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und selbstbestimmt am Arbeitsleben teilhaben können. Auch vor dem Hintergrund des hohen Fachkräftebedarfs ist es geboten, Menschen mit Behinderungen darin zu unterstützen, einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Die Maßnahmen dieses Gesetzes zielen deshalb darauf ab,
– mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit zu bringen,
– mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit zu halten und
– zielgenauere Unterstützung für Menschen mit Schwerbehinderung zu ermöglichen.“
Dem entgegen werden allerdings im derzeitigen Gesetzentwurf zwei existierende Instrumente der betrieblichen Prävention und medizinischen Rehabilitation zur beruflichen Reintegration und sozialen Teilhabe nicht etwa als stärker unterstützenswerte Maßnahmen behandelt: Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) und die stufenweise Wiedereingliederung (StW). Obwohl auch der Gesetzgeber von deren Schlüsselstellung und Wirksamkeit ausgeht.
Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren versprach die SPD-Vorsitzende Saskia Esken einen Rechtsanspruch auf BEM und die stufenweise Wiedereingliederung für alle Beschäftigten, was in den Koalitionsvertrag übernommen wurde: „Das BEM wollen wir als Instrument auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stärker etablieren mit dem Ziel, es nach einheitlichen Qualitätsstandards flächendeckend verbindlich zu machen (Beispiel »Hamburger Modell«).“
Und nun fehlt im Gesetzentwurf jede Form der Umsetzung. Der Anspruch auf ein BEM und die StW ist im Gesetzentwurf schlicht weggefallen und wird explizit nicht berücksichtigt. Demnach müssen sich Arbeitgebende, wenn sie es nicht für nötig halten, weiterhin nicht bemühen, positiv mitzuwirken. Es hat keine Konsequenz (außer arbeitsrechtlich bei Kündigungsschutzklagen).
Und noch etwas: Bußgelder für grob fahrlässiges Verhalten und mutwilliges Vermeiden, Menschen mit Behinderung einzustellen, fallen weg …
Paradox: Mehr Inklusion in Arbeitswelten fordern, ohne Schlüsselinstrumente zu stärken
Sollte es zur Förderung von Inklusion nicht gerade auch um die Stärkung etablierter Konzepte mittels RechtsDURCHSETZUNG gehen? Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) und die stufenweise Wiedereingliederung (StW) bieten nicht nur Antworten auf die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen. Sie sind für alle Parteien konstruktive Lösungswege – wenn sie gewollt sind. Darüber hinaus können sie eine frühzeitige Verzahnung mit der Prävention ermöglichen. Ohne Prävention keine nachhaltige Inklusion, beides bedingt sich gegenseitig.
BEM und StW sind für alle Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen relevant, weil es jeden und jede treffen kann. Insbesondere für Menschen mit Behinderungen sind diese Verfahren auch bedeutsam, um die Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern bzw. zu erleichtern. Sie leisten damit auch einen Beitrag, fürs Alter vorzusorgen, dem Armutsrisiko zu entgehen und so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Frau Prof. Dr. Katja Nebe, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, nimmt im Diskussionsforum zu Rehabilitation und Teilhabe auf dem Portal Reha-Recht.de in einem Fachbeitrag Stellung zu diesem Sachverhalt. Ihren Text fasse ich nach der folgenden Passage mit persönlichen Erfahrungswerten zum BEM und zur StW in verkürzter Form zusammen. Hier finden Sie den lesenswerten Original-Beitrag:
Nebe K: Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes – ohne BEM und StW? – Ein Plädoyer, Rechtsdurchsetzung zu stärken. Beitrag D3-2023 unter www.reha-recht.de; 06.03.2023
Bewährt: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und Stufenweise Wiedereingliederung (StW)
Zum Hintergrund: Das betriebliche Eingliederungsmanagement und die stufenweise Wiedereingliederung sind Instrumente zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben für alle Beschäftigten mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und zwar unabhängig von der Art der Erkrankung bzw. unfallbedingten Folgen – mit und ohne anerkannte Behinderung.
Das BEM ist ein rechtlich reguliertes Verfahren der betrieblichen Prävention und verpflichtend seit 2004 für alle Arbeitgebenden, unabhängig von der Unternehmensgröße. Es ist Beschäftigten anzubieten, die sechs Wochen und mehr innerhalb eines Jahres arbeitsunfähig sind. Dies gilt sowohl für langzeiterkrankte (ununterbrochene AU von 42 Tage/Jahr) als auch mehrfach erkrankte Beschäftigte (AU in Summe mehr als sechs Wochen). Es ist ein dynamisches, proaktives Managementinstrument, das auf die kooperative Suche nach Möglichkeiten zur Weiterbeschäftigung abzielt und dazu als dialogorientierter Prozess gestaltet wird.
Die StW ist ein Verfahren zur beruflichen Wiedereingliederung nach einer längeren Krankheitsphase, die in der Regel in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit und am bisherigen Arbeitsplatz erfolgt. Sie ist Vielen auch als „Hamburger Modell“ bekannt und wird noch der medizinischen Reha zugeordnet. Die StW ist nicht gleichzusetzen mit dem BEM, sondern eine von vielen möglichen Maßnahmen, die je nach individuellem Bedarf, betrieblichen Belangen und Optionen innerhalb eines BEM zur Anwendung kommen können. Die StW bedarf der Zustimmung von Arbeitgebenden, Arbeitnehmenden, ärztlicher Seite und dem Träger.
Zum Stand der Umsetzung des BEM aus persönlicher Erfahrung
Ziele des BEM sind vor allem, die berufliche Rückkehr und Erwerbsteilhabe von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu fördern. Eine bestehende Arbeitsunfähigkeit gilt es mit geeigneten Interventionen zu überwinden und dauerhafte Arbeitsunfähigkeit möglichst zu vermeiden. Arbeitsbedingungen sind zu verbessern. Das BEM ist entgegen mancher Vorurteile also nicht nur dazu da, um eine drohende krankheitsbedingte Kündigung zu verhindern (nach § 167 Abs. 2 SGB IX), sondern vor der Ultima Ratio konstruktive Lösungswege in der Prävention zu finden.
Doch gerade für kleinste bis kleinere mittelständische Unternehmen (KMU) stellt die Umsetzung des BEM oftmals eine Herausforderung auf verschiedenen Ebenen dar. Laut Studien hinken sie in der Erfüllung der Mindestanforderungen deutlicher als große Unternehmen hinterher. Wobei insgesamt nur um die 40 % ein BEM implementiert haben. Die Gründe sind vielfältig, am häufigsten begegnen mir Ressourcenmangel, Mangel an Wissen und Expertise sowie fehlende unternehmerische Sinn-Bedeutung und Priorisierung – zu Gunsten anderer betrieblicher Herausforderungen und kurzfristigen Lösungen durch Einzelmaßnahmen.
All das ist oft nachvollziehbar und verständlich im Kontext der jeweiligen Situation, die sich die wenigsten einfach machen werden. Dennoch sind das keine Gründe, ein „richtiges“ BEM nicht umsetzen zu KÖNNEN.
Meine Empfehlung:
Sind Sie selbst für die Einführung oder Durchführung eines BEM verantwortlich oder für Ihr Unternehmen und Mitarbeitende intern beratend tätig? Dann lassen Sie sich doch professionell unterstützen. Zum einen fällt die Beratung und Unterstützung im BEM in den regulären Aufgabenbereich der betriebsärztlichen Betreuung. Und bei Bedarf stehen Ihnen auch Ihre Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Ansprechperson zur Seite. Zum anderen können Sie sich auf verschiedene Art und Weise und durch gesetzliche Träger kostenfrei beraten und im Prozess begleiten lassen.
Sie möchten mehr über die Verfahren des BEM und der StW erfahren? Informationsbroschüren, Anregungen und Tipps zur Umsetzung gibt es unter anderem vom BMAS und der BAuA.
Wünschen Sie sich eher individuelle Einzelberatung aus präventiv-, reha- und sozialmedizinischer Sicht oder systemisch-fachliches Prozesscoaching mit On-the-job-Begleitung und persönlichem Sparring? Dann lassen Sie uns sprechen, welche Form der Unterstützung aktuell für Sie passt. Nehmen Sie hier Kontakt auf oder buchen Sie direkt ein kostenfreies Orientierungsgespräch.
Notwendig: Rechtsdurchsetzung zur Stärkung des BEM und der StW
Die Autorin, Frau Prof. Nebe, plädiert dafür, die Rechtsdurchsetzung im Zusammenhang mit dem BEM und der StW zu stärken. Zu Recht betont sie, dass die Gefahr besteht, dass der Gesetzgeber seine klar erkennbare Aufgaben nicht erfüllt. Dadurch würde die bereits bekannte Rechtsschutzlücke bestehen bleiben. Somit ergibt sich weiterhin kein Rechtsanspruch auf ein BEM und eine Wiedereingliederung nach Krankheit, was der Zielsetzung entgegensteht und Risiken der Frühverrentung mit sich bringt (eig. Anm.).
Daher plädiert sie dafür, diese Durchsetzungslücke rasch im Zuge des derzeitigen Gesetzvorhabens zu schließen. Sie argumentiert auch dahingehend, dass der Gesetzgeber bei der Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes den Vorgaben des Art. 27 UN-BRK und der Europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 2000/78/EG) folgen muss.
Zudem kritisiert Frau Nebe die mangelnde Umsetzung der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen im deutschen Arbeitsrecht. Sie hinterfragt hier die Argumente der Rechtsprechung, die sich gegen die Anerkennung von BEM und StW als angemessene Vorkehrungen stellen.
Nebe K: Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes – ohne BEM und StW? – Ein Plädoyer, Rechtsdurchsetzung zu stärken. Beitrag D3-2023 unter www.reha-recht.de; 06.03.2023
Fazit: Forderung an den Gesetzgeber für einen inklusiven Arbeitsmarkt
Nach der Meinung von Frau Prof. Nebe sollten Verfahren wie das BEM als angemessene Vorkehrung anerkannt werden. Und die Rechtsprechung sollte die Bedeutung des BEM und der StW für Menschen mit Behinderung nicht verkennen, auch wenn diese Verfahren für alle Beschäftigten gelten.
Ein inklusiver Arbeitsmarkt benötigt sowohl universelle Lösungen als auch angemessene Vorkehrungen im Einzelfall und das Prinzip des “universal design” sollte im Sinne der UN-BRK beibehalten werden.
Ihre Forderung an den Gesetzgeber ist, dies im Lichte der Exklusionsrisiken konsistent zu regeln und die Stärkung von BEM und StW durch klar erkennbare Rechtsansprüche zur Umsetzung von Art. 27 UN-BRK vorzunehmen. Es gebe keinen sachlichen Grund, Menschen in kleinen und mittleren Unternehmen von einem durchsetzbaren BEM auszuschließen.
Als Ergänzung ist hier noch ein Hinweis auf mehr Hintergrund-Infos und Aktionen der bundesweiten BEM-Initiative, die sich dem Gesetzentwurf ebenso entgegenstellen. Es wurde unter anderem ein offener Brief von Betriebsräten, Personalräten, Mitarbeitervertretungen, Schwerbehindertenvertretungen und Beschäftigten an die Mitglieder des Deutschen Bundestages verfasst. Zudem hat der Initiator Walter Brinkmann auf Change.org eine Petition an den Bundesarbeitsminister Herrn Heil gestartet.
Damit müssen wir uns alle auseinandersetzen und gesellschaftliche Lösungen finden!
Für mich ist es unverständlich und inkonsequent, dass das BEM und die StW als wirksame Instrumente der betrieblichen Prävention und Inklusion im aktuellen Gesetzesentwurf außen vor bleiben. Aber auch, warum Pflichten ohne ernsthafte Konsequenzen bei Nichterfüllung bleiben und sich Unternehmen völlig sanktionsfrei von der Beschäftigung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen „freikaufen“ können. Ich kann mir politische und wirtschaftliche Gründe denken, warum die Rechtsdurchsetzung gescheut wird.
Die Entwicklung widerspricht den Vorhaben im Koalitionsvertrag und ist meiner Ansicht nach angesichts der ohnehin bestehenden Benachteiligung chronisch und komplex Erkrankter und schwerbehinderter Menschen besorgniserregend. Die systematische Diskriminierung zieht sich durch alle gesellschaftlichen Subsysteme hinweg. Sei es in Bezug auf Chancen zur Arbeitsintegration auf dem freien Markt oder im Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen zur selbstbestimmten Teilhabe und Neuorientierung.
Dennoch gibt es Positivbeispiele, die auch und vielleicht gerade unabhängig von staatlichen Regularien auf freiwilliger Basis funktionieren und selbst unter Kleinstunternehmen innovative Vorreiter. Sie gehen neue Wege, legen den Fokus auf Stärken und nutzbare Ressourcen, um Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen an Bord zu halten. Durch unterstützende Systeme, digitale Prozesse und Technologien und die sich verändernde Art und Weise, wie Arbeit und Wissen organisiert wird, ergeben sich vielerorts auch mehr Gestaltraum und Nutzenpotenzial.
Wie sehen Sie das? Welche Erfahrung haben Sie mit dem BEM gemacht? Was sind Umsetzungsanreize für Ihr Unternehmen? Welche Ideen und Vorstellungen über Entwicklungsperspektiven möchten Sie teilen?
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Über Schlaganfallbegleitung.de: Die stufenweise Wiedereingliederung nach leichtem Schlaganfall
Auf LinkedIn: Der Wiedereinstieg und Neustart nach Krebsbehandlung
Beitragsbild: Symbolbild für einen Gesundheits-Check-up im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagement vor Planung der Stufenweisen Wiedereingliederung (Foto by Canva.com)