Desinformation und einseitige, negativ konnotierte Propaganda spielt eine zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Diskriminierung von Long COVID-Betroffenen. In jüngerer Zeit häufen sich wieder Berichte, in denen „Experten“ die Existenz, Evidenz und Schwere von Long bzw. Post COVID anzweifeln. Meist sind es nur Meinungsartikel, Interviews oder Kommentare, jedoch veröffentlicht in renommierten und auflagenstarken Zeitungen.
Der allgemeine Vertrauensvorschuss in die Verlage, in die Bekanntheit und akademischen Titel der Interviewgäste und Autoren verstärkt die Legitimierung der Aussagen. Wer sich mit der medizinischen Geschichte von komplexen und postviralen Erkrankungen auseinandersetzt, wird hier ein wiederkehrendes Muster erkennen: Minimierungsversuche, verharmlosende Narrative und psychologisierende Zuschreibungen werden besonders in Phasen laut, wenn Fortschritte in der biomedizinischen Forschung neue wissenschaftliche Erkenntnisse zutage bringen.
Ob absichtlich oder unabsichtlich – Medien können dazu beitragen, Vorurteile, Stereotypen oder diskriminierende Ansichten zu perpetuieren. Damit tragen sie auch zur Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Strukturen bei, die bestimmte Gruppen marginalisieren und benachteiligen.
Bei der neuroimmunologischen Erkrankung ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) führte die Lobbyarbeit bestimmter Interessengruppen dazu, dass über Jahrzehnte Investitionen und Innovationen in der biomedizinischen Forschung und Versorgung blockiert wurden. Es ist wichtig, zu wissen, dass eine Subgruppe Long COVID-Betroffener ME/CFS als schwerste Verlaufsform entwickelt.
Medien als Vehikel der strukturellen Diskriminierung
Aktuell sind die Süddeutsche Zeitung, die FAZ und der Spiegel auf den Zug aufgesprungen, Artikel mit unwissenschaftlichen Äußerungen zu veröffentlichen. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, diese zu teilen, da sie zum Teil nicht nur irreführend sind, sondern auch Betroffene herabwürdigen. Und diese lösten entsprechend Empörung und in Windeseile eine Flut an Kommentaren in den sozialen Medien aus. Auf X/Twitter fasst Dr. Markus Frazcek einige Zitate der Artikel zusammen.
An sich gute Gründe, um sich darüber aufzuregen. Meine Trigger haben sich ebenfalls bemerkbar gemacht, zumal ich mich seit drei Jahren für Aufklärung rund um Long COVID und ME/CFS einsetze und durch meine Beratungs- und Netzwerkarbeit leider mehr als genug Betroffene kennengelernt habe.
Daher ist es mir sehr wohl ein Anliegen, sichtbar zu machen und auszusprechen, was hier systematisch praktiziert wird. Dass sich beim Thema Long COVID Stigmatisierung und Diskriminierung ausbreiten, ist ein strukturelles Problem. Und Vorurteile verstärken gesellschaftliche Wahrnehmungen und Bewegungen in Richtung Ableismus, der Diskriminierung von chronisch kranken und behinderten Menschen mit Long COVID.
Aber – und da spreche ich vor allem engagierte Unterstützende und Betroffene an – dafür müssen wir solche Beiträge nicht direkt verbreiten.
Geben wir diesen Narrativen keinen weiteren Nährboden. Jedes Teilen und direktes Kommentieren spielt in die Hände jener, die sich damit profilieren wollen, ethische Prinzipien beiseite schieben und schwer erkrankte Menschen gaslighten und verhöhnen.
Dass wir nicht selbstverständlich auf journalistische Sorgfalt und Integrität setzen können, ist eine Wahrheit. Ebenso, dass einige Mediziner ihren fachlich-wissenschaftlichen Anspruch und das ethische Professionsverständnis in mancher Hinsicht persönlichen und wirtschaftlichen Vorteilen unterordnen. Selbst wenn es so scheint, als ob sie damit auch ihren moralischen Kompass an ihr Ego abgetreten haben:
Eine andere Wahrheit ist die, dass wir alle über deren Spielraum und unsere Gestaltungsmöglichkeiten bestimmen – durch unsere Entscheidungen, wie wir darauf reagieren.
Ergänzung: Durch den Austausch zu meinem Artikel auf Bluesky habe ich zwei Begriffe gelernt, die ich mit Ihnen teile, da sie die hier relevanten Manipulationsphänomene prägnanter ausdrücken als Clickbaiting: „Rage Farming“ und „Rage Baiting“ beschreiben eine manipulative Taktik, welche eine Erhöhung der Klickraten und des Engagements durch das Auslösen von Empörung anstrebt, teilt der X/Twitter-Account ME/CFS Stuttgart mit. Ausführliche Infos zur Herkunft stellt Wikipedia bereit.
Die Empörung ist verständlich und braucht Raum
Ich habe Verständnis und Mitgefühl für alle, die, statt Zuspruch und Hilfe zu erhalten, immer wieder mit Grenzüberschreitungen, Psychologisierung und verletzenden Worten konfrontiert werden.
Long COVID-Betroffene bilden sich ihre gravierenden gesundheitlichen Probleme und körperlichen Beeinträchtigungen nicht ein. Diese sind auch nicht psychosomatisch bedingt, nur weil die begrenzte Standard-Diagnostik keine auffälligen Befunde zeigt. Sekundäre psychische Belastungen sind angesichts der Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen hingegen kaum von der Hand zu weisen.
Schwer erkrankte, vormals zumeist gesunde und aktive, junge Menschen werden nicht gesehen und gehört. Ausgegrenzt von adäquater Versorgung und zurückgelassen mit ihrem Leid und existenziellen Verlusten. Mit zermürbenden Schmerzen, tiefer Kränkung und geballter Wut, in einer Fassungslosigkeit, als “Schreihälse” diffamiert zu werden (Werner Bartens in der SZ). Gefangen in erdrückenden Gefühlen von Ohnmacht, die für Viele auch bedeutet, eine erneute Traumatisierung und Crashs zu erleben.
Ich kann das Bedürfnis, sich mitzuteilen und laut und sichtbar Gehör zu verschaffen, sehr nachvollziehen.
Und deswegen schlage ich vor:
Wählen wir – wenn Sie sich angesprochen fühlen – andere Strategien, statt den Absendern unmittelbar mit emotionalen Impulsen zu antworten. Genau das wird erwartet und provoziert. Teilen wir das nicht!
Geben wir jenen keine Bestätigung, die Unruhe stiften und ihren Applaus aus den vielen Zugriffen auf ihre polarisierenden Meinungsartikel ziehen. Sie erhalten dafür noch mehr Aufmerksamkeit, Einladungen zu Interviews und Diskussionsrunden. Mehr Belohnung, ohne selbst Mehrwert in der Sache zu liefern.
Ich meine damit nicht, dass wir Emotionen und Gefühle unterdrücken, solche Texte unkommentiert lassen oder Unmut für uns behalten sollten. Wir können uns wo-andes Luft machen, um ihnen den nötigen Raum zu geben und uns zur Wehr zu setzen, ohne den Provokateuren Sichtbarkeit zu geben.
WIR können anders!
Das Aufzeigen von Fehlverhalten und Desinformation reicht allein auch nicht aus, um ein systematisches Umdenken und Andershandeln auszulösen. Denken wir gründlich darüber nach, wie wir über den Wirkungskreis der (sozialen) Medien hinaus wirksamer werden können.
Vergeuden wir nicht die kostbare Lebenszeit und Kraft durch Diskussionen mit denen, die unreflektiert und unwissenschaftlich an einseitigen Meinungen festhalten. Und wer sich am Leid anderer profiliert, tut dies nicht im Unwissen, dass das falsch sein könnte. Geben Sie dem nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig.
Es gibt unterschiedliche Wege, um zu zeigen, dass so etwas nicht zu tolerieren ist und verschiedene Adressaten, um Dinge gezielt klarzustellen. Auch den Weg, sich auf hierarchisch höheren Ebenen zu beschweren und dies öffentlich zu teilen, wie es Patientenorganisationen in Kooperation gemacht haben.
Als Unterstützende können wir uns durch unser Verhalten positionieren und eine klare Haltung gegen das Verharmlosen von Long COVID und gegen die Diskriminierung von Betroffenen einnehmen.
Gerade in diesen schwierigen, von globalen und bedrohlichen Krisen geprägten Zeiten der Unsicherheit und der Gefährdung demokratischer Werte tun wir gut daran: Unsere Energie kooperativ zu bündeln und sie für mehr Gemeinsinn zu nutzen.
Lenken wir den Fokus auf Sensibilisierung und Aufklärung, auf systemische Bildung und darauf, gewünschtes Verhalten sichtbar zu machen und förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen:
Solidarität mit Betroffenen und Unterstützenden zeigen, deren Bedürfnisse und Anliegen unterstützen.
Einzelpersonen und Communities sichere Räume anbieten, in denen Gedanken und Gefühle wertungsfrei zum Ausdruck kommen und gemeinsam reflektiert werden dürfen.
Bei Bedarf Austausch an virtuellen Orten moderieren, um neue Ideen und Lösungsansätze im Umgang mit Herausforderungen entstehen zu lassen.
Populismus, Fake News und persönlichen Provokationen den Wind aus den Segeln nehmen.
Für einen respektvollen Umgang, Wahrung der Würde und Menschenrechte einstehen.
Platz für Ihre Ergänzungen und Vorschläge reservieren … (Schreiben Sie mir gerne!)
Unsere Gesellschaft braucht heute nichts dringender als sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Lebenswerte Zukünfte und gesundheitliche Chancengleichheit für alle.
Fazit: Was können wir tun?
Eine kurze Antwort auf die Frage, wie man mit solchen Berichten am besten umgeht, habe ich nicht. Weil es in komplexen und dynamischen Kontexten keine einfachen Lösungen gibt. Keine Entscheidung ist nur richtig oder falsch. Wählen wir jetzt eine Option, blenden wir gleichzeitig andere und Paradoxien aus und stehen im nächsten Schritt vor neuen Fragen durch die Konsequenzen, auch den nicht beabsichtigten.
An Kommunikation beteiligte Systeme und Umwelten beeinflussen sich wechselseitig und strukturelle Kopplungen sind nur bedingt vorhersehbar und willkürlich regulierbar. Wir müssen berücksichtigen, dass es interaktionale Probleme und Konflikte gibt, die nicht vollständig aufzulösen sind. In Dilemmas haben wir zu entscheiden, welches Übel geringer ist und welche Option besser handhabbar scheint. Das gilt es immer wieder zu reflektieren. Daher müssen wir lernen, stabil mit höherer Komplexität umzugehen.
Wo bisherige und lösungsfokussierte Ansätze nicht weiterführen, können individuell angepasste Interventionen hilfreich sein. Es ist wichtig, zunächst emotional Abstand von der Situation zu gewinnen und sich zu stabilisieren, um dann mit frischen Denkanstößen die eigene Perspektive zu erweitern. Und gemeinsam fällt es leichter, Probleme aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, Verbindungen zu knüpfen und Freiräume für neue Handlungsoptionen zu schaffen.
Dieser Artikel soll nicht dazu ermutigen, still zu werden. Vielmehr möchte ich dazu anregen, Kräfte auf eine andere Art und Weise einzusetzen – sinnvoll, ressourcenschonend und wirkungsvoll. Es geht auch darum, Unterstützende zu mobilisieren. Um Widerstand zu leisten, müssen wir nicht noch Desinformationen verbreiten, indem wir Artikel teilen, über die wir uns berechtigterweise aufregen. Fragen Sie sich: Wem nützt diese zusätzliche Sichtbarkeit mehr?
Woran würden Sie merken, dass Ihre Bemühungen Früchte tragen? Es ist unwahrscheinlich, dass sich diejenigen, die Gaslighting betreiben und Kranke diskreditieren, durch einzelne Gegenaktionen umstimmen lassen. Um deren Einfluss zu schmälern, sollten wir stattdessen denjenigen, die sich engagieren, den Rücken stärken.
Fragen wir danach: Was müsste passieren, um Erzählungen in positiver Richtung zu beeinflussen, welche die öffentliche Meinung in Zukunft prägen? Was können wir dann heute für den nächstmöglichen Schritt beitragen, damit sich auf dem Weg dorthin etwas verändert?
Fragen wir danach: Was müsste passieren, um Erzählungen in positiver Richtung zu beeinflussen, welche die öffentliche Meinung in Zukunft prägen? Was können wir dann heute für den nächst möglichen Schritt beitragen, damit sich auf dem Weg dorthin etwas verändert?
Nach diesen Prinzipien können wir jederzeit handeln – und uns darauf vorbereiten, wie wir reagieren und uns dennoch sicher fühlen, wenn Dinge passieren, die außerhalb unserer Kontrolle unterliegen.
Weitere Reaktionen zu diesem Thema
Auf LinkedIn können Sie die Kommentare auf meinen Beitrag lesen, hier habe ich zuerst eine kürzere Version dieses Artikels veröffentlicht.
Die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS haben am 28.09.2023 gemeinsam Beschwerde beim Deutschen Presserat zum Kommentar “Der Fokus auf Post-Covid ist zu eng” von Werner Bartens in der SZ eingelegt. Verbunden mit der Bitte um Prüfung einer öffentlichen Rüge, um die bestehende strukturelle Ausgrenzung von schwerst postinfektiös Erkrankten aus der medizinischen und sozialen Versorgung nicht durch diskriminierende und unwissenschaftliche Meinungs-Kommentare öffentlich weiter zu unterstützen. Als PDF-Download unter: https://mecfs.at/wp-content/uploads/2023_09_Beschwerde-Presserat.pdf
Der Ärzte- und Ärztinnenverband Long COVID hat Stellung zur Diskussion über die Ableitung von Aussagen aus einer Analyse und der Meinung von kalifornischen Epidemiologen im BMJ bezogen, welche davon ausgehen, dass die Zahl von Post-COVID-Erkrankten stark überschätzt wird. Es wurde auch über die Mängel dieser Arbeit diskutiert, wie das Deutsche Ärzteblatt am 02.10.2023 im Artikel „Ärzte bekräftigen gesellschaftliche Bedeutung von Long COVID“ schreibt. Das DÄB zitiert den Verband, der neben der Forschung die Bedeutung des Schaffens von Versorgungsstrukturen betont, die unabhängig von der starken Variabilität von Angaben zur Häufigkeit notwendig sind: „Wenn eine Infektion pandemisch verläuft und in Deutschland zu 40 Millionen Erkrankten führt, wären bei einer Prävalenz von 0,5 Prozent immer noch 200.000 Menschen mit Diagnose- und Behandlungsbedarf einschließlich Rehabilitation betroffen“, hieß es.
Einen Einblick über Ursachen der bei Long COVID deutlicher werdenden Diskriminierung gibt die SWR-Dokumentation “Long Covid und ME/CFS – Krimi um eine Krankheit” von Nicolas Morgenroth, aktualisiert am 30.06.2023. Die historischen Hintergründe gehen auf den politischen und medizinischen Umgang mit der Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom zurück.
Ressourcen zu Long COVID, Behinderung und Teilhabe
Artikel auf meinem Blog und LinkedIn
Auch zu Long COVID und ME/CFS unter Themen & Beiträge und auf LinkedIn mittwochs in Mini-Fortbildungs-Beiträgen unter meinem persönlichen LinkedIn-Profil und dem Hashtag #MEAwarenessHour.
LinkedIn (2022): Bessere Versorgung für ME/CFS – Nach der Anhörung im Deutschen Bundestag
Externe Literatur
Zwei Beiträge von REHADAT, an denen ich mitwirken durfte:
1. REHADAT Wissensreihe (2023): Von wegen nur ein Schnupfen! Wie sich die berufliche Teilhabe von Menschen mit Long COVID gestalten lässt. Kommentar zu “Arbeit sozial gestalten”. Kapitel 3, Abschnitt 3.5: »Ich kenne meine Belastungsgrenzen« LÖSUNGEN FÜR DEN ARBEITSALLTAG”. https://www.rehadat-wissen.de/ausgaben/12-long-covid/
2. REHADAT Gute Praxis (2023): Interview im Rahmen der REHADAT-Wissen Ausgabe 12 zu Long COVID: Es ist an der Zeit für eine gesundheitsorientierte Neuausrichtung!. Etwas versteckt in der Box unter dem Reiter “Interview”. https://www.rehadat-gutepraxis.de/praxisbeispiele/interviews/
Zander, M (2021): Corona-Pandemie und Behinderung – ein Überblick. Zeitschrift für Disability Studies (ZDS). https://diglib.uibk.ac.at/download/pdf/6633964.pdf
Beitragsfoto: xusenru auf pixabay
Das Titelbild soll symbolisch für eine klare Positionierung gegen Long COVID Verharmlosung, Ableismus und jede andere Form der Diskriminierung stehen.
Ein Gedanke zu „Long COVID in den Medien: Gratwanderung zwischen Diskriminierung und Aufklärung“
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